Grundgedanken zu Geometrie und Kunst - Benno Werth, Aachen

Wassily Kandinsky sagt in seinem Buch "Über das Geistige in der Kunst" den bedeutungsvollen Satz:

"Der Punkt in der Fläche ist der Beginn eines Wesens".

Es vereinigt sich das Phänomen Punkt mit dem Material (mater/Mutter) Fläche zum beginnenden Wesen.
Die Bildfläche ist begeistigt, ist befruchtet, analog der Befruchtung des Eies durch den Samen. Das ist höchste Anforderung an den künstlerischen Prozess, der sich gleichnisartig vollzieht, wie es Paul Klee formulierte. Gleichnishafte Zeichen (Bildsprache) stehen als Ausdruck von Leben. Dialogische Paarungen sind schon im Menschen angelegt. Die Senkrechte, das maskuline Prinzip, verbindet sich mit der Waagerechten zum Dialog. Die Senkrechte ist ein Zeichen für Aktivität; die Waagerechte ein Zeichen für aufnehmend passives Sein, beide sind wertgleich: eines ohne das andere wertlos, nicht existenzfähig und somit auch nicht aussagefähig. Das nach oben ragende Dreieck mit sendendem Charakter verbindet sich zur Ganzheit erst mit dem nach unten gerichteten, sich nach oben talförmig öffnenden Dreieck.

Alle Kinder dieser Welt kritzeln Punkte, sie malen Vertikale und Horizontale als Urkreuz, sie zeichnen das Zickzack und damit Dreiecke unterschiedlicher Ausprägungen, die je nach Art ihrer Innenwinkel spezifische Ausdruckswerte und Gestaltkraft haben. Und schließlich formen sie den umhüllenden Kreis, das Urknäuel. Im Laufe ihrer Entwicklung geht dieses unbewusste Vermögen der Kinder verloren, wenn es nicht neu als geistiger Besitz erworben wird. Die unendliche Vielfalt der Ausdrucksmittel durch Variation und Kombination der Zeichen bildet die Grundlage bildnerischen Denkens, wenn die Deutung das Denken durch Begriffe möglich macht. Bildsprache ist die Sprache ohne Worte. Es kann ihre Bedeutung mit Begriffen nur umschrieben werden.
Sie selbst muss nonverbal gedacht werden.

Wenn Tal (nach oben offenes Dreieck) als feminin aufnehmendes Prinzip verstanden wird und der darin fließende Bach als aktives Maskulinum, ist der Dialog geschlossen, der Bezug zum Menschen hergestellt.
Dieses Naturbild ist in künstlerischer Übersetzung oder gestalterischer Verfremdung denkbarer Begriff. Begriffe entstehen durch den Dialog zwischen den natürlichen oder abstrakten Bildzeichen und dem kongruenten Bezug zu den menschlichen Anlagen, maskulin und feminin zu sein.

Wird ein Zeichen im Bild wahrgenommen, so entsteht ein Akt der Übertragung auf die dem Menschen innewohnenden Kräfte. Eine Assoziationskette verbindet Vertrautes und Erkanntes mit den im Bild signalisierten Formen. Sobald eigene Charakteristika angesprochen sind, schließt sich der Dialog zwischen Menschlichem, Körperhaftem und abstrakt Bildhaftem. Aktives wird deckungsgleich mit Aktivem, Passives mit Passivem. Maskulines in der Bildsprache entspricht dem Maskulinen im Menschen; das Feminine im Bild dem Femininen. Das Kunstwerk wird deutbar. Ganzheitliches Erleben und bildnerisches Denken stimmen überein.
In der emotionalen Betrachtung von Bildern oder auch Landschaften oder alltäglichem Umfeld sind diese Vorgänge unbewusst. Will aber Kunst verstanden, bildnerisch gedacht werden, ist der Bewusstmachungsprozess gefragt und notwendige Voraussetzung.

Der Geschehnispunkt des Bildes ist Element der Bildkonzeption und damit der bildtragenden Idee des Künstlers. Dieser Punkt kann eine beliebige ausdruckgebende Form haben; kann ein dunkles Dreieck sein oder ein heller Kreis, kann eine Vertikale sein oder eine gelbe Horizontale, kann ein Weg im Wald sein oder ein Leuchtturm am Meer. Der Geschehnispunkt lenkt die Konzentration der Betrachter, holt sie ins Bild. Von diesem Punkt aus erschließen die Betrachter die Gesamtkomposition des Bildes. Die Suggestivkraft des Bildpunktes erreicht ihren Höhepunkt im betroffenen Betrachter, der sich mit der Aussage des Bildes identifiziert.
Ein Kunstwerk ist somit Leben und Sein in Zeichensprache, es erwartet Verstehen im Gleichnis.

So ziehen im überwiegend dunklen Bild "Der Philosoph" von Rembrandt ein helles Gesicht und die ebenso helle, leuchtende, flammenförmige Seite eines geöffneten Buches den Betrachter in ihren Bann. Die bildtragende Idee offenbart sich in der Korrespondenz zwischen den beiden geistverkörpernden hellen Farbpunkten und der dunklen, aufnehmenden Bildfläche. Hier ist der Bildraum begeistigt, das Unbewusste durch den menschlichen Geist erhellt. Denken ist mit Bildsprache gesagt.

Im Bild "Kornfeld mit Krähen" von van Gogh fallen schwarze Vögel als Schwarm in ein gelb leuchtendes Kornfeld ein. Das Feld, durchfurcht von Wegen, die ein offenes, aufnehmendes Dreieck bilden und einem ins Nichts führenden Weg in der Mitte, trägt reiche Frucht. Der Vogelschwarm als Aktivum, in schwarzer energieloser Farbe gemalt, stürzt sich auf das Korn, den Samen. So werden die Vögel zum Tod bringenden Zeichen und der Weg ohne Ziel zum Symbol der Hoffnungslosigkeit. Die Todesahnung van Goghs ist Bild geworden; es war sein letztes künstlerisches Gleichnis.

Für Goethe sind "Farben Taten und Leiden des Lichts". Er bringt Farben mit dieser Sinngebung in Beziehung zum menschlichen Aktiv- bzw. Passiv-Sein. In diesem Kontext besitzt das rote Blut (die Substantia Vita), mit Sauerstoff angereichert, eine ins Gelb weisende Ausprägung, die Aktivität signalisiert. Das verbrauchte, ins Blau gehende Blut vermittelt dagegen Passivität und öffnet zugleich die Bereitschaft zum Empfang neuer Energie durch die Aufnahme von Sauerstoff. Das Gelb befruchtet das Blau. So werden die drei elementaren Farben Rot, Gelb und Blau zu grundlegenden Begriffen und die unendliche Vielfalt ihrer Mischungen zur Komplexität der Farbpalette.

Ein beeindruckendes Beispiel dafür sind die monochromen, blauen Bilder von Yves Klein. Sie üben eine so unglaubliche Suggestivkraft aus, weil das sehr spezifische Yves-Klein-Blau Empfängnisfähigkeit signalisiert. Der Betrachter fühlt sich in die blau-passive Bildfläche aufgenommen und wird zum Dialogpartner. In ihm wird durch das Blau des Bildes die Komplementäre Orange angesprochen, die eine Verschmelzung von aktivem Gelb mit vitalem Rot verkörpert.So wird der Betrachter zum Aktivum im Bild. Der Dialog ist geschlossen.